Die perfekte Sommerlektüre für Menschen mit literarischem Anspruch: Liebe, Verletzungen, Trennungen. Geburten, Freude, Wahnsinn. Kindheit, Jugend, Alter, Tod. Um nichts weniger geht es. Ein tiefschürfendes, vielschichtiges Buch - aber gleichzeitig federleicht und außerordentlich tröstlich. Das ist "Die Sommer der Porters" von Elizabeth Graver. In den USA ist sie eine bekannte und anerkannte Schriftstellerin, in Deutschland dagegen kennt sie kaum jemand. Vielleicht ändert sich das jetzt mit ihrem vierten Roman, der für den National Book Award nominiert war und bei uns pünktlich zu den Sommerferien im Mare Verlag erschien, übersetzt von Juliane Zaubitzer. Für den "Büchermarkt" beim Deutschlandfunk habe ich Elizabeth Graver per Skype interviewt. Wer Elizabeth Graver per Skype erreichen möchte, findet sie in Boston, an der Ostküste der USA. In ihrem Profil beschreibt sie sich als "writer, teacher, mother", also als "Schriftstellerin, Lehrerin, Mutter". Nichts könnte besser passen zu ihrem Roman "Die Sommer der Porters". Eine der Hauptfiguren ist Schriftstellerin, eine Universitätsdozentin, und das Thema "Mutterschaft" zieht sich durch das 464 Seiten dicke Buch und über die gesamte Zeitspanne von 60 Jahren, von denen dieses Buch erzählt. Für Elizabeth Graver hat das Verhältnis von Müttern zu ihren Kindern viel mit Macht zu tun. "Das Thema hat mich immer fasziniert. Schon lange, bevor ich selbst Kinder hatte, habe ich Geschichten aus der Perspektive von Müttern geschrieben. Ich finde die Intensität dieser Beziehung, wie sie abwechselnd Autonomie und Verbindung hervorbringt, schon immer interessant. Aus beiden Perspektiven, der der Mutter genauso wie der des Kindes. In diesem Buch hat mich interessiert, wie Generationen entstehen, wie eine Generation die nächste formt." Der Roman beginnt im Jahr 1942. Auf der fiktiven Halbinsel Ashaunt an der amerikanischen Ostküste. Hier besitzen betuchte neuenglische Familien ihre Sommerhäuser, in denen sie sich jedes Jahr versammeln. Die Porters sind eine dieser Familien: Die drei mehr oder weniger wilden jungen Töchter Helen, Dossy und Janie. Bruder Charlie seit kurzem an der Front. Der Vater im Rollstuhl, die Mutter ein wenig abwesend. Dafür gibt es zwei Kindermädchen, die sich um die Kinder kümmern. Für sie alle wird der Kriegssommer 1942 zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Leise Bedrohung liegt in der Luft. Erzählt wird dieser erste Teil aus der Sicht von Bea, der schottischen Nanny der Familie. Der Sommer, bevor ihr Leben mit den Porters etwas wurde, wofür sie sich auf eine Art entschieden hatte, die sich ganz anders anfühlte als der Weg, den das Leben ihr bisher auferlegt hatte: zu Hause bleiben, weil ihre Mutter krank war und Pflege brauchte; nach Amerika gehen, weil ihre Mutter gestorben war; in Amerika bleiben, weil – warum? Wegen eines kleinen Bündels, das miaute wie eine Katze. Bea fütterte das Bündel, und es wuchs. Die Laken bei den Porters waren frisch und sauber. Das Wasser kam aus dem Wasserhahn. Die Menschen waren gut zu ihr. Wirklich überall, wo sie hinkam, waren die Menschen gut zu ihr. Sie fand schottisches Shortbread und tropische Muscheln in ihrem Weihnachtsstrumpf. Sie fuhr in einem privaten Eisenbahnwaggon und verbrachte ihre Sommer am Meer. Sie schloss Freundschaften, die ihr ganzes Leben lang halten sollten. All das entsprach der Wahrheit, aber nichts davon hatte bisher wirklich ihr gehört. In jenem Sommer, endlich: eine Wahl. Beas Geschichte ist von einer besonders attraktiven, hypnotischen Erzählstimme getragen. Sie ist aber nur eine von vielen. Tatsächlich ist es Elizabeth Graver gelungen, jedem Charakter, jedem Erzählstrang einen anderen, ganz eigenen Klang zu geben. Die älteste Schwester Helen wird in den 50er Jahren eine Universitätskarriere anstreben und sich einer Psychoanalyse unterziehen. Ihr Sohn Charlie durch einen LSD-Trip in den 60ern beinahe den Verstand verlieren. Bea nach Jahrzehnten im Dienst der Familie als alte Frau nach Schottland zurückkehren. Jede Geschichte ist angepasst an ihre Zeit, jede hat ihre eigene Form und ihren eigenen Ton. Das gelingt so perfekt kaum einem Autor. Aber Graver hat sich auch rund neun Jahre Zeit für ihr Werk genommen. Teils, weil sie viel recherchierte und dazu sogar Reisen unternahm. Teils, weil sie als Mutter mit drei kleinen Kindern und einem Job als Dozentin an der Universität in Boston gar nicht anders konnte, als langsam an ihrem Buch zu arbeiten. Ein Schicksal, das sie mit ihrer Hauptperson Helen teilt: "Ich habe oft innegehalten und recherchiert. Zum Beispiel zu Helen, die in den 50ern eine Psychoanalyse macht. Wie war das, welche Haltung hatten damals Psychoanalytiker zu Frauen? Welche Haltung gab es zu Frauen, die arbeiten wollten? Ich habe Biografien gelesen – nicht so sehr, um ihre eigenen Probleme zu verstehen, das ist leicht für mich! – aber um zu verstehen, was es für eine kluge, stürmische, widersprüchliche Frau in dieser Zeit bedeutete, sich selbst mit Hilfe von Psychoanalyse zu verstehen." Mütter, Ersatzmütter, Töchter, Schwestern, Söhne. Väter, die auf der Arbeit sind oder im Krieg. Das Leben einer Familie über 60 Jahre. Doch ein weiterer Charakter, wenn nicht überhaupt DER Hauptcharakter, ist der Ort, an dem die Sommer der Porters stattfinden. Ashaunt, dieser steinige, windige Strand am Meer. Elizabeth Graver hat das Vorbild dazu durch ihren Mann gefunden, Sproß einer alten neuenglischen Familie. Die tiefe Verwurzelung der Familie ihres Mannes mit ihrem Sommerdomizil erstaunt Graver bis heute: "Es hat mich fasziniert, weil mein eigener familiärer Hintergrund so vollkommen anders ist. Meine Familie ist von Mutter- und Vaterseite jüdisch, da war immer viel Migration, meine Familie verteilt sich über die ganze Welt, ich mag das sehr. Aber als ich in diese alte neuenglische Familie einheiratete, war ich fasziniert davon, was es bedeutet, dass alle Familienmitglieder sich jeden Sommer an einem Ort versammeln. Diese Kontinuität zu haben, diese Stabilität – im Guten wie im Schlechten. Das kann ja schön sein, aber auch sehr einengen. Und ich war als Angeheiratete in dieser interessanten Position als Zaungast, halb drin, halb draußen. Da fallen einem Dinge auf, die man gar nicht sieht, wenn man in so etwas hineingeboren wird." Elizabeth Graver nutzt die Perspektive der distanzierten, wohlwollenden Außenseiterin für ihr Buch. Doch genauso schwebt der uralte Geist des Landes über allem, was die Generationen von Porters in ihren Sommern erleben. Die menschliche Komödie wirkt aus dieser Sicht viel kleiner und viel weniger wichtig, als ihre Protagonisten denken. "Man kann hier auf jedem Acker Pfeilspitzen der amerikanischen Ureinwohner finden. Oder Tonscherben aus dem frühen 20sten Jahrhundert. Was für Veränderungen es allein in den letzten Jahren gab, die ich hier verbracht habe: Als ich zum ersten Mal herkam, gab es kein Internet und kein Wlan. Jetzt wischt jeder Teenager auf der Straße auf seinem Handy herum, wie überall auf der Welt ist man mit der ganzen Welt verbunden. Ich gehe oft einen Schritt zurück und sehe mir die verschiedenen Schichten an, die des Landes, der Erde, aber auch die Schichten von Zeit und Erinnerung, die Welt der Natur und die der Menschen, die gegen das Große Ganze ziemlich klein erscheint." Liebe, Verletzungen, Trennungen. Geburten, Freude, Wahnsinn. Kindheit, Jugend, Alter, Tod. Das sind die Themen in "Die Sommer der Porters". Es scheint fast, als sei es das schroffe Land selbst, das hier die menschlichen Dramen beobachtet. Mit einer Gelassenheit, die diesen tiefgründigen Roman federleicht und außerordentlich tröstlich macht. Komisch, wie man, wenn man klein war, davon ausging – wenn ich heirate, wenn ich Kinder habe. Alle Mädchen taten das, obwohl überall um sie herum die Männer ohne Arbeit waren oder auf dem Sprung in ein anderes Land oder Opfer – Körper, Seele oder beides – des Krieges. Dann verstrich das Leben, bis man mittendrin war und aufgehört hatte, irgendetwas zu erwarten, ohne sich dessen so richtig bewusst zu sein, und das Leben war ganz anders, als man es sich vorgestellt hatte, aber nichtsdestotrotz ein gutes Leben – ganz und gar gut genug. Die Audioversion, gesendet vom Deutschlandfunk, kann hier (herunterscrollen zur Sendung vom 29.7.2016) nachgehört werden. "Die Sommer der Porters" von Elizabeth Graver.
Originaltitel: "The End of the Point". Übersetzt von Juliane Zaubitzer. Mare Verlag, 464 Seiten, gebunden, 22 Euro Comments are closed.
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