Essays und Artikel über die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im Literaturbetrieb erscheinen immer wieder, zuletzt am vergangenen Freitag im "Guardian" unter dem Titel "If you doubted there was gender bias in literature this study proves you wrong". Mir war da kürzlich auch etwas aufgefallen. Martin Walser hat einen neuen Roman veröffentlicht. Er hatte eine Co-Autorin, Thekla Chabbi. Er erwähnt diese Tatsache ausdrücklich und immer wieder. Die Literaturkritik eher nicht. Das Buch heisst "Ein sterbender Mann". Es könnte auch "Eine verschwundene Frau" heissen. Martin Walser und Thekla Chabbi im April 2016 (Foto: Oskar Neubauer) "Ein sterbender Mann" erschien im Januar 2016 bei Rowohlt und wurde ausgiebig besprochen. Wer (zumindest die im Internet veröffentlichten) Rezensionen liest, wundert sich. Thekla Chabbi kommt in diesen Besprechungen selten vor. Sehr selten. Dabei ist ihre Beteiligung kein Geheimnis, Martin Walser nennt sie ausdrücklich und spricht ihr auf einer der ersten Seiten des Romans seinen Dank aus. Die Zusammenarbeit Walser/Chabbi hat eine erstaunliche Geschichte. Die beiden werden sie auf ihrer einige Monate dauernden Lesereise immer wieder erzählen. Martin Walser: "Ich habe bei einer deutsch-chinesischen Veranstaltung Frau Chabbi kennengelernt. Zu einer Zeit, als ich schon im Kopf mit einer Figur zu tun hatte, die nicht mehr leben wollte, Theo Schadt. So hieß er da noch gar nicht. Aber Lebensüberdruss für meine Hauptfigur war schon das Thema. Und dann habe ich nach der Veranstaltung halt den Mund nicht halten können und von meinem lebensüberdrüssigen Theo Schadt vielleicht zu viel geplaudert. Und dann hat sie mir einen Link geschickt – ich weiss nicht, ob ich das Wort vorher schon gekannt habe – und hat mir geschrieben, ich könne mich einloggen – kennen Sie das Wort? Gut, hab ich mich also zum ersten Mal in meinem Leben eingeloggt, und dann wurde ich allerdings fasziniert eingeloggt beim Suizidforum. Das gibt es, im Internet, und das war fas-zi-nie-rend! Und ich war dann ganz gierig, weil ich für meinen Theo Schadt ja genau so etwas brauchte. Also die hat mich genau auf die richtige Frequenz gebracht. Und dann hab ich auch gleich für meinen Theo Schadt so einen lebensüberdrüssigen Brief geschrieben, mal probieren. Und dann hab ich gedacht, naja, das schick ich ihr, mal schauen, da sie die Expertin ist für Lebensüberdruss, hab ich ihr das geschickt. Und dann kam der Moment, der alles zum Roman gemacht hat: Sie geantwortet, nicht als Thekla Chabbi, sondern als "Aster". Als eine aus dem Suizidforum. Sie hat die Fiktionsebene akzeptiert. Und hat meinen Theo Schadt kritisiert, weil er doch alles übertreibt und so, da hat er ein bisschen was Schlechtes erlebt und schon will er sich umbringen. Und da musste ich meinen Theo Schadt wieder verteidigen. Und da waren wir im Roman. So hat der Roman begonnen, so ist er entstanden." Fest steht: Ohne Thekla Chabbi gäbe es die Figur und die ganz eigene Stimme der "Aster" nicht. Chabbi hat Asters sämtliche Briefe, Emails und Privatnachrichten in "Ein sterbender Mann" geschrieben. Ebenso wie ein ganzes Kapitel über eine Algerienreise, unternommen von der Figur Sina Baldauf, in die sich Theo Schadt auf den ersten Blick verliebt (und die, wie sich herausstellen wird, mit "Aster" identisch ist). Auch das Thema Tango, das in Walsers neuem Roman eine bedeutende Rolle spielt, stammt von Thekla Chabbi. Egal, wie man zu dem Roman an sich steht: Es ist eine interessante, beinahe skurille Geschichte, die die beiden Co-Autoren da haben. Sie zeigt den prägendem Einfluss von Chabbi auf "Ein sterbender Mann". Und zeugt von einer großen Offenheit und Neugier des damals 89jährigen Martin Walser. Er, der Großschriftsteller, lässt sich nicht nur auf die für ihn neue Welt des Internet ein, sondern auch auf ein literarisches Experiment mit einer relativ unbekannten Sinologin und Übersetzerin aus dem Chinesischen. Aber diese Geschichte wird in den meisten Rezensionen einfach links liegen gelassen. Man muss schon das nicht unbedingt auf Literaturkritik spezialisierte Handelsblatt aufschlagen, um eine gleichberechtigte Nennung von Walser und Chabbi zu finden. Die Weltwoche druckt ein Interview mit Walser, der auf Thekla Chabbis Mitarbeit hinweist. Und Jörg Magenau, Rezensent und Walser-Biograf, erkennt im Deutschlandfunk an, dass die Kooperation Walser-Chabbi "auch ein wirkliches, wagemutiges Schreib-Experiment" sei. DIE MEHRHEIT DER REZENSENTEN SCHWEIGT DIE CO-AUTORIN TOT Die große Mehrheit jedoch schweigt die Co-Autorin tot: Spiegel online, FAZ net, Neue Züricher Zeitung, Tagesspiegel, RBB Kulturradio, NDR Kultur, WDR, SWR Kultur Info – sie alle verlieren über Thekla Chabbi in ihren Rezensionen kein einziges Wort. Es ist, als gäbe es sie nicht. Ob Verriss oder Hymne ist dabei egal. In der Fernsehsendung "Lesenwert" schaffen Walser-Fanboy Denis Scheck und Walser-Fangirl Felicitas von Lovenberg es über 29 Minuten und 38 Sekunden, die Co-Autorin und ihre Leistung komplett unter den Studiotisch fallen zu lassen. Dem Kritiker der NOZ gelingt eine besondere Blamage. Denn er hebt einzig eine Stelle in seinem Verriss lobend hervor: "Walser überlädt seinen Roman mit all diesen disparaten Anliegen und Themen. Deshalb liest sich das Buch über Strecken auch langatmig, bisweilen beliebig. Die große Ausnahme: Die Geschichte von Sinas Reise nach Algerien, zum Tango und zu den eigenen Wurzeln hat Kraft, Härte, Prägnanz. So glasklar hat sonst nur Albert Camus geschrieben." Gerade dieses Kapitel stammt von – dreimal dürfen Sie raten: Thekla Chabbi. Richard Kämmerlings von der Welt erwähnt die Co-Autorin in zwei verwunderten Sätzen. Iris Radisch aber raunt in der Zeit in ihrem Urteil eher von ihr, so als bezweifle sie Chabbis Existenz, als hielte sie sie für eine literarische Finte: "Das alles ist unsortiert durch- und nebeneinander: eine grob zusammengezimmerte Posse, kapriziösestes Ego-Theater, eine krachlederne Literaturbetriebskomödie, eine herrliche Persiflage der Gelassenheits- und Memento-Mori-Ratgeber, ein großartiges shakespearehaftes Lebensschauspiel und ein energisches und in dieser Energie beeindruckendes Nichtsterbenwollen-Buch eines Achtundachtzigjährigen, der im Vorspann einer gewissen Thekla Chabbi, wohnhaft in München, für ihre nicht näher bestimmte 'schöpferische Mitarbeit' an dem Buch dankt." DAS SCHICKSAL DER UNBEKANNTEN MUSE NEBEN DEM GROSSEN MANN Ist eine Co-Autorin für das Feuilleton per se uninteressant? Warum wird eine schreibende Frau an der Seite eines großen schreibenden Mannes so reflexhaft ignoriert? Weil man sie als "Muse" abtun kann? Weil keine/r der Damen und Herren eine schreibende Frau an der Seite des Übervaters Walser ernst nehmen kann? Oder will? Oder was? Ich verstehe es nicht. Aber es kommt mir leider bekannt vor. Als Journalistin verstehe ich ausserdem nicht, dass die wenigsten Kolleginnen und Kollegen offenbar den Versuch unternommen haben, nachzufragen und mehr über Thekla Chabbi in Erfahrung zu bringen. Warum hat kaum einer beim Verlag angerufen? Es gibt da eine Presseabteilung, Leute! Einfach mal fragen, wer Thekla Chabbi ist und was es mit dieser Co-Autorenschaft auf sich hat. Kann man doch machen. Wäre vielleicht interessant. Obwohl, zugegeben: Der Mann von der Süddeutschen Zeitung muss ein bisschen recherchiert haben. Er weiß, dass Thekla Chabbi mal mit Schlagerstar Guildo Horn verheiratet war (ja, war sie wirklich), der selbsternannten "singenden Nussecke". Was so ziemlich das irrelevanteste Detail ist, das man in diesem Zusammenhang erwähnen kann, den Kollegen aber zu folgender unfassbar bescheuerten Frage hinreisst: "Ist es womöglich eine der Obsessionen Martin Walsers, die deutsche Literaturgeschichte als schreibende Nussecke zu zieren?" Gegenfrage: Ist es möglich, dass sie im Feuilleton der SZ die Nussecken rauchen? ALTER MANN UND JUNGE FRAU - DA WISSEN DIE KRITIKER SCHEINBAR BESCHEID Im April schließlich führt Volker Hage für den Spiegel ein Interview mit Walser und Chabbi. Zu dem Zeitpunkt waren Autor und Autorin schon seit Wochen auf Lesereise und hatten ihre Geschichte auf verschiedenen Bühnen erzählt. Dieses Gespräch allerdings hat eher BUNTE-Niveau. Ob die beiden inzwischen auch zusammen leben, fragt Hage. Alter Mann und junge Frau, für den Kritiker muss ja was – vorsichtig ausgedrückt – "Privates" dahinter stecken. Vielleicht tut es das ja sogar tatsächlich. Aber ob und was die beiden miteinander haben oder nicht haben, interessiert mich an dieser Stelle nicht. Viele Kollegen jedoch scheinen das Thema auf genau diese Weise abgehakt zu haben. Nach dem Motto: "Der Walser und die jungen Frauen, kennen wir doch!". Dass man damit eine ernstzunehmende Autorin abqualifiziert – geschenkt. Der überwiegende Teil der deutschen Literaturkritik lässt sich so nicht nur eine tolle Geschichte durch die Lappen gehen, sondern ignoriert auch die literaturwissenschaftlich durchaus relevante Entstehungsgeschichte dieses Walserromans. Sicher trägt auch Thekla Chabbis bescheidenes Wesen dazu bei, dass sie so flächendeckend ignoriert wurde und wird. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, musste sogar dazu überredet werden, bei Lesungen mit auf der Bühne zu sitzen. Eine typisch weibliche Verhaltensweise. Ironischerweise hat ihre Zurückhaltung gerade zu der Zusammenarbeit mit Walser geführt. Denn als der ihr den Text von Theo Schadt schickte, den dieser im Suizidforum posten wollte, hat Chabbi es einfach nicht gewagt, ihm unter ihrem eigenen Namen zurückzuschreiben – so schlüpfte sie in die Rolle der "Aster" und ließ sich auf das Dichten, auf die Fiktion ein. AD: Ist ja auch ganz schön frech, Frau Chabbi, dem großen Martin Walser auch so ein Stück Dichtung vor die Füße zu werfen und ihn dann, bzw. seine Figur, darin auch noch zu kritisieren. WÄRE DIE LITERATURKRITIK MIT EINEM MÄNNLICHEN CO-AUTOR SO UMGESPRUNGEN? Trotzdem liegt die Frage nahe: Wäre die Literaturkritik mit einem männlichen Co-Autor ebenso umgesprungen? Ich bezweifle das. Martin Walser selbst erinnert in diesem Zusammenhang an Johann Wolfgang von Goethe. Der hat Gedichte von Marianne von Willemer, die diese an ihn schickte, im West-östlichen Divan veröffentlicht und als seine eigenen ausgegeben. Was der alte Goethe noch alleine erledigte, übernimmt heute beinahe geschlossen das Feuilleton: Die Leistung einer Frau (neben der eines bewunderten Mannes) abzuwerten oder sogar totzuschweigen. Wie schön, dass Martin Walser dabei nicht mitmacht. "Goethe-Fachleute erzählen, Marianne von Willemer hat Gedichte geschrieben, an Goethe geschickt, die hat er in den west-östlichen Diwan aufgenommen, in sein Lyrikbuch, und hat keinem Menschen gesagt, dass die Gedichte nicht von ihm sind, sondern von Marianne von Willmer. Das ist ein literaturhistorischer Vorgang, der für mich nicht in Frage kam. Ich war in heller Freude, dass ich gestehen konnte: Da hat mir jemand geholfen." Comments are closed.
|